…wer nicht lesen kann, ist auf Erden ein Verruchter, im Jenseits ein Verdammter.

Karl Emil Franzos, Der Pojaz

Bei Czernowitz

                                                                       Die Stille ist ein Mund,
Der redet lauter als die Welt

                                                            Alfred Margul-Sperber

Ging langsam, ging gar nicht,
es war nicht empfohlen zu gehen
heraus aus der Stadt in die Ebene,
dabei

war alles wie immer am Fluss,
an der städtischen Badestelle.

Das Taxi genommen,
wie ihr es mir dringend geraten,
durch die Stadt fahren lassen
in die Ebene hinaus

zum Pruth. Kein anderes Ziel,
als euch zu sagen:

Hier bin ich, bei euch.
Und mein Herz, das aus dem letzten
Jahrhundert stammt, schlug bange.
Bei euch.

Übersetzen

für Petro Rychlo

Die Fähre von Vers zu Vers,
begrenzte Ladefläche, nicht viele,
die beide Richtungen nehmen,
der Fährmensch und ‘s Fährvolk
der Schwalben; während der Fahrt
beichten einander Fremde
bestandene Abenteuer, atmen
gemeinsam aus, plötzlich das Ufer,
der Abschied rasch und erleichtert.

Körper

aus: Alice Oswald, 46 Minuten im Leben der Dämmerung. Aus dem Englischen von Iain Galbraith und Melanie Walz. S. Fischer Verlag Frankfurt am Main 2018

Aus einem Schöpfungsgedicht

Nacht, es war Nacht, die Mutter der Nächte,
Abstand von allem, das Abernichts, nichtend,
so eine philosophische Nacht aber auch!
Liebende flehten an die Titanen, deren Gesicht
bleich, wie es pflichtgemäß war, Maske der Erde,
sagte aus nichts, Schweigen behütend. Gottheiten
deuten stechenden Fingers? Sie entblödeten sich
nicht, galt es den Aufstand der Engel, Lichtträger,
trocken wie Stroh, knisterndes, dass jene Nacht
hell war und blutselig, Showdown & Cheers.
Ächzen und Lecken, Honig der Atzung am Jordan.
Nichts, wir verstehen nichts, Schwärze.

aus: Gegenreden, Gedichte, S. Fischer Verlag Frankfurt am Main 2015

Wie das Wasser

Ich sah, wie das Wasser im Flussbett sich wölbte,
sah, wie geringe Wellen sich trafen zu Mustern,
ich sah alle Arten von Vögeln tauchen nach Fisch,
ich sah, wie die Brücke im Nebel sich spannte,
sah sie in ihrem treuen Tun, die Arbeiterin,
verstand ihren alten und schönen Gedanken.

Ich sah eine Brise kommen, ihr Spiel mit dem Fluss,
auffrischende Winde strähnten das Wasser,
ich sah zu dem Schloss, der Terrasse, dem Grabmal
des Lebensfreundes, den auch ich sehr vermisste,
ich grüßte den Weinberg, das Handwerk des Winzers,
ich sah, wie das Wasser mit der Erinnerung fortzog.

Abel

aus: Else Lasker-Schüler, Gedichte 1902-1943. Kösel-Verlag München, Vierte Auflage 1990

Wir leben

Wir leben in den Räumen
zwischen den Klopfzeichen der Toten,
zwischen ihren Chiffren
in unseren Worten
und ihren ehernen Namen,
unter ihren Signalen auf Halbmast.
Wir leben, gekrümmte Lettern,
Schlangen und Salamander.
Die Toten wohnen tiefer
und, schlagen wir sie heraus,
aufrecht noch im Pflasterstein.
Unser schiefer, fragender Gang
auf ihrem Chorsatz.

Aus: Vineta. Gedichte, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1998

O Gott

aus: Else Lasker-Schüler, Gedichte 1902-1943, Kösel-Verlag München, 4. Auflage 1990

Über das Land

Asher Reich, Tel Aviver Ungeduld. Gedichte, übersetzt von Lydia Böhmer und Paulus Böhmer, axel dielmann-verlag Frankfurt am Main 2000

Verfolgungswahn

Statt des Geldbriefträgers kommt der Mond
vom Friedrichshain. Statt der Liebe tritt
der wackere Sankt Georg aus der Ecke,
fremd, unbekannt ohne sein Kreuz.
Statt der Krokusse, der zarten Frühlingstöne,
rast der Schlitten auf der Todesbahn.
Statt des Planschbeckens für die Enkel
steht das Leninmonument im Garten.

Aus: Die sichtbaren Dinge, poetenladen, Leipzig 2019

Sommertag

Aus: Ausgewählte Gedichte, Chaim Nachman Bialik, R. Löwit Verlag, Wien und Dresden 1922

Sternsucher

Der, hör ich, nachts aus dem Haus geht
und, seh ich, hoch in den Himmel schaut,
den, weiß ich, eine sehr gerne mal träfe,
doch, sagt sie, so wie es aussieht,
der, klagt sie, schaut doch immer nur hoch
und, denkt sie, niemals in mein Gesicht.
So, mein Freund, findest du nie deinen Stern.

Aus: Vineta, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998

Das Kind

Bin wieder Kind geworden mit den Jahren,
hab keinen Anteil an der großen Welt,
hocke in einem abgelegenen Garten
und staune, dass der Regen fällt.
Die Leute draußen denk ich mir zu Liebespaaren,
und obendrein verdienen sie sich Geld.
Meins ist, ich liebe, auf die Sterne warten,
kann sein, dass einer in mein Hemd rein fällt.

Die sichtbaren Dinge, poetenladen, Leipzig 2019

Termine

06.11.25
Buchpremiere “Gerhard Altenbourg in Altenburg”
Altenburg

03.12.25
Buchpremiere mit Hans-Christian Schink “Am Weg”
Museum der bildenden Künste, Leipzig