Stille aus Krähenrufen und aus tiefem Schnee,
aus goldenen Stämmen des sehr lichten Waldes.
Mein Boot zerdrückt vom gestern noch wie ewigen
Eis, das heute nicht mehr begehbar.
Durchnässt die schweren Schuhe,
Hände klamm um Messer und Glas.
Wär nicht das Lied des fast vergessenen Sommers
und tönte nicht vom Bett im Kopfe einer Weide
und reimte nicht anmutige Jagd auf Spiel,
das ganze andere Land, ich lebte winters nur.
Nicht wirklich platonisch
Versuchung Flauberts
aus: Helmut Berthold, NACHGESAGT, im Selbstverlag – In memoriam Jürgen Stenzel – 2024
Innsbruck Dezember
Schlammgrüner Inn, Krähenbäume ragen in Nebel,
Futur der Standseilbahn.
Der Wagnersche Laden für Bücher, Hofdrucker der Medici,
Freundinnen plaudern bei bunten Getränken
und Mütter spielen am Kind. Ich frage: Der Brenner?
Und Trakl, der Vorname, wie?
Die Markthalle, dunkles Brot, ein Achterl und gutes Wort,
die Blumenfrau besprüht zwei Rosen, solln haltbar sein,
empfiehlt nach Mühlau den Bus. Ich gehe und gehe
und stehe in dem Park am Fluss: “Gottes Schweigen trank ich
aus dem Brunnen des Hains.”
Der letzte Brief die Woche vor dem Tod in Krakau,
um Korrekturen geht es, um Gedichte: Verehrter Freund!
Die Rosen von dem Markt rechts auf das graue Kreuz,
links auf die schwarze, blanke Fläche Stein.
Den Morgen drauf zur Abfahrt sind die Nebel fort,
schneeweiß und blau die höhere Freude allen.
“Des Edlen bleiche Schläfe Lorbeer ziert.”
Wie das Wasser
Ich sah, wie das Wasser im Flussbett sich wölbte,
sah, wie geringe Wellen sich trafen zu Mustern,
ich sah alle Arten von Vögeln tauchen nach Fisch,
ich sah, wie die Brücke im Nebel sich spannte,
sah sie in ihrem treuen Tun, die Arbeiterin,
verstand ihren alten und schönen Gedanken.
Ich sah eine Brise kommen, ihr Spiel mit dem Fluss,
auffrischende Winde strähnten das Wasser,
ich sah zu dem Schloss, der Terrasse, dem Grabmal
des Lebensfreundes, den auch ich sehr vermisste,
ich grüßte den Weinberg, das Handwerk des Winzers,
ich sah, wie das Wasser mit der Erinnerung fortzog.
Meetschow Oktober
Wir haben den langen Weg genommen.
Die Grenze kam und kam nicht,
wir dachten nur Grenze aus alter Gewohnheit.
Der Wechsel von Landschaft und Baustil dann doch –
woran sich die Grenzzieher halten.
Dabei sind Hochwald und Vorgärten und ein Maschinenpark,
der sich der Rüben am Acker annimmt,
nur Zeichen, dass es uns überall gibt.
Wir kamen in Wind, er war vorrätig dort,
das Flache, die Marsch, da war wirklich genug davon.
Wie atemlos vor Weite gingen wir,
auch unter dem Regen fürs Land und die Pilze.
Die wilde Malve, der Rainfarn, blühendes Jakobskraut,
schwärzlicher Rest der Sonnenblumenfelder.
Wir gingen und sprachen nicht.
Die Schafe am Deich,
bei dunklen Pferden ein weißes.
Am Ende, zum Blick auf das andere Ufer
erklommen wir brüchige Hölzer und saßen
auf einem gefallenen Baum, einer der Nebenflüsse
schmolz in den Strom bei Pappeln, die golden da standen.
Abel
aus: Else Lasker-Schüler, Gedichte 1902-1943. Kösel-Verlag München, Vierte Auflage 1990
Abend
Yithak Laor, Abend. Aus: Akzente. Zeitschrift für Literatur Heft 2, April 2011. Moderne hebräische Lyrik. Zusammengestellt von Ariel Hirschfeld. Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer
Kunst, Natur und Oberlausitz
Seit über einhundert Jahren
betrachten wir mit Kennermienen,
wie Regenschirme und Nähmaschinen
sich auf OP-Tischen paaren.
Ebenso schön ist und wird was bedeuten,
dass Schlangen sich häuten.
Auch werden hier unten Kühe gemolken
und oben gelegentlich Wolken.
Hätte ich Geld für Kunst auszugeben,
gern für Max Langers Blumenstillleben.
Ansichtskarten 2
aus: Miklós Radnóti, Ansichtskarten. Gedichte, Volk und Welt Verlag Berlin 1967; Nachdichtung: Franz Fühmann
Wunsch
Gleich überm Waldrand, wo die Wanderwege
schon steiler sind, sich wölben zu den Almen,
sah ich den Mann mit seiner Axt sich regen.
Sein weißes Hemd strahlte im grünen Rahmen
der Lichtung, wo die Stämme, zugeschnitten
zu Kloben, für sein Winterholz hoch lagen.
Ich war heut leider nicht weit ausgeschritten
und froh, dem Waldarbeiter zu begegnen,
hätt ohne ihn den Tag nicht gut gelitten.
Ich wünschte, sein Tun könnte meines segnen,
aus: Gegenreden, S. Fischer Verlag Frankfurt am Main 2015
Wir leben
Wir leben in den Räumen
zwischen den Klopfzeichen der Toten,
zwischen ihren Chiffren
in unseren Worten
und ihren ehernen Namen,
unter ihren Signalen auf Halbmast.
Wir leben, gekrümmte Lettern,
Schlangen und Salamander.
Die Toten wohnen tiefer
und, schlagen wir sie heraus,
aufrecht noch im Pflasterstein.
Unser schiefer, fragender Gang
auf ihrem Chorsatz.
Aus: Vineta. Gedichte, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1998
O Gott
aus: Else Lasker-Schüler, Gedichte 1902-1943, Kösel-Verlag München, 4. Auflage 1990
Gethsemane
Ein Frühlingstag, Himmel und Sonne klar.
Zum Abend Einkehr wie gewohnt.
Die Amsel singt fremder vielleicht.
Spät trittst du noch einmal hinaus,
stumm in die Lichter der Menschen.
Wie viele noch gehen in ihren Waffen,
wie wenig Gehör, du ebenso.
Und über den Tankstellen,
wo sich das Leben begibt,
rot geht ein Mond herauf,
der nicht mehr ganz vollständig ist.
Aus: Die Farben des Wassers, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2001
Über das Land
Asher Reich, Tel Aviver Ungeduld. Gedichte, übersetzt von Lydia Böhmer und Paulus Böhmer, axel dielmann-verlag Frankfurt am Main 2000
Nachts, Frühling
Narzissen nachts finden,
in Vasen sich wendend
zum Fenster, zur Nacht,
Narzissen, die wissen
es sicher, aber du auch,
wir sind von der Zwiebel
geschnitten von Hand
großer Gärtnerinnen.
Aus: Imago, S. Fischer Verlag Frankfurt am Main 2022
Rille
Jürgen Theobaldy, Nun wird es hell und du gehst raus, Wallstein Verlag Göttingen 2024
Verfolgungswahn
Statt des Geldbriefträgers kommt der Mond
vom Friedrichshain. Statt der Liebe tritt
der wackere Sankt Georg aus der Ecke,
fremd, unbekannt ohne sein Kreuz.
Statt der Krokusse, der zarten Frühlingstöne,
rast der Schlitten auf der Todesbahn.
Statt des Planschbeckens für die Enkel
steht das Leninmonument im Garten.
Aus: Die sichtbaren Dinge, poetenladen, Leipzig 2019
Sommertag
Aus: Ausgewählte Gedichte, Chaim Nachman Bialik, R. Löwit Verlag, Wien und Dresden 1922
Sternsucher
Der, hör ich, nachts aus dem Haus geht
und, seh ich, hoch in den Himmel schaut,
den, weiß ich, eine sehr gerne mal träfe,
doch, sagt sie, so wie es aussieht,
der, klagt sie, schaut doch immer nur hoch
und, denkt sie, niemals in mein Gesicht.
So, mein Freund, findest du nie deinen Stern.
Aus: Vineta, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998
Die Frühjahrssturm-Terzinen
Das Kind
Bin wieder Kind geworden mit den Jahren,
hab keinen Anteil an der großen Welt,
hocke in einem abgelegenen Garten
und staune, dass der Regen fällt.
Die Leute draußen denk ich mir zu Liebespaaren,
und obendrein verdienen sie sich Geld.
Meins ist, ich liebe, auf die Sterne warten,
kann sein, dass einer in mein Hemd rein fällt.