Oberlin

Des Lebens der Bücher, die Frohen lagerten rings,
sie nahmen mich, neunmalbereit, auf eins und auf zwei
und alle: beinahe ein Lied. Die Fragen wuchsen sich,
Erzählungen, aus. Ich wusste noch nicht, der Mond
lag schon bereit am Hafenofen, am Tiegel, am Punkt.
Von dort zurückzuschauen Gottes schönstes Blau.
Heut fuhren wir, eine Busladung voll, über Christi
Geburt hinaus. Man weiß doch, wer wohnte wo
vor zweieinhalbtausend Jahren, Empedokles’ Schuh,
Apollo, der lässig Modell für Praxiteles stand.
Doch liebt auch der Eine, allumsichtig, Fehler,
und aus der Schmelze tritt das Unvorhersehbare.

für Sidney Rosenfeld; aus: Gegenreden. Gedichte, S. Fischer Verlag Frankfurt am Main 2015

Wie das Wasser

Ich sah, wie das Wasser im Flussbett sich wölbte,
sah, wie geringe Wellen sich trafen zu Mustern,
ich sah alle Arten von Vögeln tauchen nach Fisch,
ich sah, wie die Brücke im Nebel sich spannte,
sah sie in ihrem treuen Tun, die Arbeiterin,
verstand ihren alten und schönen Gedanken.

Ich sah eine Brise kommen, ihr Spiel mit dem Fluss,
auffrischende Winde strähnten das Wasser,
ich sah zu dem Schloss, der Terrasse, dem Grabmal
des Lebensfreundes, den auch ich sehr vermisste,
ich grüßte den Weinberg, das Handwerk des Winzers,
ich sah, wie das Wasser mit der Erinnerung fortzog.

Meetschow Oktober

Wir haben den langen Weg genommen.
Die Grenze kam und kam nicht,
wir dachten nur Grenze aus alter Gewohnheit.
Der Wechsel von Landschaft und Baustil dann doch –
     woran sich die Grenzzieher halten.
Dabei sind Hochwald und Vorgärten und ein Maschinenpark,
     der sich der Rüben am Acker annimmt,
nur Zeichen, dass es uns überall gibt.

Wir kamen in Wind, er war vorrätig dort,
das Flache, die Marsch, da war wirklich genug davon.
Wie atemlos vor Weite gingen wir,
auch unter dem Regen fürs Land und die Pilze.
Die wilde Malve, der Rainfarn, blühendes Jakobskraut,
     schwärzlicher Rest der Sonnenblumenfelder.
Wir gingen und sprachen nicht.

Die Schafe am Deich,
bei dunklen Pferden ein weißes.
Am Ende, zum Blick auf das andere Ufer
erklommen wir brüchige Hölzer und saßen
auf einem gefallenen Baum, einer der Nebenflüsse
schmolz in den Strom bei Pappeln, die golden da standen.


Abel

aus: Else Lasker-Schüler, Gedichte 1902-1943. Kösel-Verlag München, Vierte Auflage 1990

Die Mauer

David Rokeah, Die Mauer, aus: Nicht Tag nicht Nacht. Ausgewählte Gedichte. Mit einem Nachwort von Michael Krüger, Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt am Main 1986

Am Abend

Zum Klopfen eines Kinds, das einen Nagel einschlägt,
des jungen Kleibers, der sich noch nicht sicher ist,
ein hoher Ton in dem Geräusch der Nachbarschaft.
Da ist er, als ein Mehrklang, den sie singen oder
doch Violinen, die sich zueinander stimmen,
es kommen zu der alten Lehrerin noch Schüler.
Am Ende ist es nur das einfache, das Spielzeug,
ein Brummkreisel, schon kippt er um und ist verstummt.

Schneiden

Oft bot sich mir die Liebe gnadenlos,
oft prallte ich darauf, trank bitteren Trunk.

Oft nahm sich unerwartet Eisen an der Rosen
und schnitt sie auf den Strunk,

so dass sie wieder wuchsen mir vor Augen,
so dass auch wieder Lieder wurden, reifer, groß.

So war die eine Art des Handwerks, Schneiden
formt Gärten, sieht aus gnadenlos.

Erstfassung in: Gegenreden. Gedichte, S. Fischer Verlag Frankfurt am Main 2015

Abend

Yithak Laor, Abend. Aus: Akzente. Zeitschrift für Literatur Heft 2, April 2011. Moderne hebräische Lyrik. Zusammengestellt von Ariel Hirschfeld. Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer

Rettungsmedaille

Philippe Soupault, Rettungsmedaille aus: DAS SURREALISTISCHE GEDICHT. Zweitausendeins, Frankfurt am Main 1985

Kunst, Natur und Oberlausitz

Seit über einhundert Jahren
betrachten wir mit Kennermienen,

wie Regenschirme und Nähmaschinen
sich auf OP-Tischen paaren.

Ebenso schön ist und wird was bedeuten,
dass Schlangen sich häuten.

Auch werden hier unten Kühe gemolken
und oben gelegentlich Wolken.

Hätte ich Geld für Kunst auszugeben,
gern für Max Langers Blumenstillleben.

Ansichtskarten 2

aus: Miklós Radnóti, Ansichtskarten. Gedichte, Volk und Welt Verlag Berlin 1967; Nachdichtung: Franz Fühmann

Wunsch

Gleich überm Waldrand, wo die Wanderwege
schon steiler sind, sich wölben zu den Almen,
sah ich den Mann mit seiner Axt sich regen.

Sein weißes Hemd strahlte im grünen Rahmen
der Lichtung, wo die Stämme, zugeschnitten
zu Kloben, für sein Winterholz hoch lagen.

Ich war heut leider nicht weit ausgeschritten
und froh, dem Waldarbeiter zu begegnen,
hätt ohne ihn den Tag nicht gut gelitten.

Ich wünschte, sein Tun könnte meines segnen,

aus: Gegenreden, S. Fischer Verlag Frankfurt am Main 2015

Die Vogelgucker

Die Vogelgucker murmeln: Limikolen,
sie wollen mir nicht wirklich sagen,
was sie mit ihren Gläsern näher holen.
Da werde ich die tausend Stimmen fragen,
die an der Grenze zwischen Tag und Nacht
dem Gang der Sonne eigne Antwort geben,
sich ineinander zu Musik verweben,
wenn Bekassine seufzt und Möwe lacht,
die Regenpfeifer Grund haben zu pfeifen,
die Freude dessen, der sie schuf, begreifen.

Aus: Imago. Gedichte, S. Fischer Verlag Frankfurt am Main 2020

Wir leben

Wir leben in den Räumen
zwischen den Klopfzeichen der Toten,
zwischen ihren Chiffren
in unseren Worten
und ihren ehernen Namen,
unter ihren Signalen auf Halbmast.
Wir leben, gekrümmte Lettern,
Schlangen und Salamander.
Die Toten wohnen tiefer
und, schlagen wir sie heraus,
aufrecht noch im Pflasterstein.
Unser schiefer, fragender Gang
auf ihrem Chorsatz.

Aus: Vineta. Gedichte, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1998

O Gott

aus: Else Lasker-Schüler, Gedichte 1902-1943, Kösel-Verlag München, 4. Auflage 1990

Gethsemane

Ein Frühlingstag, Himmel und Sonne klar.
Zum Abend Einkehr wie gewohnt.
Die Amsel singt fremder vielleicht.
Spät trittst du noch einmal hinaus,
stumm in die Lichter der Menschen.
Wie viele noch gehen in ihren Waffen,
wie wenig Gehör, du ebenso.
Und über den Tankstellen,
wo sich das Leben begibt,
rot geht ein Mond herauf,
der nicht mehr ganz vollständig ist.

Aus: Die Farben des Wassers, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2001

Über das Land

Asher Reich, Tel Aviver Ungeduld. Gedichte, übersetzt von Lydia Böhmer und Paulus Böhmer, axel dielmann-verlag Frankfurt am Main 2000

Nachts, Frühling

Narzissen nachts finden,
in Vasen sich wendend
zum Fenster, zur Nacht,
Narzissen, die wissen
es sicher, aber du auch,
wir sind von der Zwiebel
geschnitten von Hand
großer Gärtnerinnen.

Aus: Imago, S. Fischer Verlag Frankfurt am Main 2022

Rille

Jürgen Theobaldy, Nun wird es hell und du gehst raus, Wallstein Verlag Göttingen 2024

Verfolgungswahn

Statt des Geldbriefträgers kommt der Mond
vom Friedrichshain. Statt der Liebe tritt
der wackere Sankt Georg aus der Ecke,
fremd, unbekannt ohne sein Kreuz.
Statt der Krokusse, der zarten Frühlingstöne,
rast der Schlitten auf der Todesbahn.
Statt des Planschbeckens für die Enkel
steht das Leninmonument im Garten.

Aus: Die sichtbaren Dinge, poetenladen, Leipzig 2019

Sommertag

Aus: Ausgewählte Gedichte, Chaim Nachman Bialik, R. Löwit Verlag, Wien und Dresden 1922

Sternsucher

Der, hör ich, nachts aus dem Haus geht
und, seh ich, hoch in den Himmel schaut,
den, weiß ich, eine sehr gerne mal träfe,
doch, sagt sie, so wie es aussieht,
der, klagt sie, schaut doch immer nur hoch
und, denkt sie, niemals in mein Gesicht.
So, mein Freund, findest du nie deinen Stern.

Aus: Vineta, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998

Die Frühjahrssturm-Terzinen

Das Kind

Bin wieder Kind geworden mit den Jahren,
hab keinen Anteil an der großen Welt,
hocke in einem abgelegenen Garten
und staune, dass der Regen fällt.
Die Leute draußen denk ich mir zu Liebespaaren,
und obendrein verdienen sie sich Geld.
Meins ist, ich liebe, auf die Sterne warten,
kann sein, dass einer in mein Hemd rein fällt.

Die sichtbaren Dinge, poetenladen, Leipzig 2019

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