Wir leben
Wir leben in den Räumen
zwischen den Klopfzeichen der Toten,
zwischen ihren Chiffren
in unseren Worten
und ihren ehernen Namen,
unter ihren Signalen auf Halbmast.
Wir leben, gekrümmte Lettern,
Schlangen und Salamander.
Die Toten wohnen tiefer
und, schlagen wir sie heraus,
aufrecht noch im Pflasterstein.
Unser schiefer, fragender Gang
auf ihrem Chorsatz.
Aus: Vineta. Gedichte, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1998
Die Frage
Magst du das auch, wenn es schön vertrackt ist
und aussieht, als wäre strengeres Denken der Weg?
Was Mensch ist, kommt auch in diesem Jahrhundert nicht weiter
als vor die Tür der Frage. Aus der Wahrheit zu sein,
wenn es hell ist, aus der Wahrheit im Dunkel der Stunde,
aus der Wahrheit zu sein, wenn Wissenschaft endet,
aus der Wahrheit zu sein wie im Spiel Vater-Mutter-Kind,
aus der Wahrheit zu sein, auf dem Baum, als ich Kind war,
von Angst war noch nicht die Rede, das Gleichgewicht
war noch nicht erfunden. Als Geschöpf sicher zu sein
vom ersten Moment bis zum letzten.
aus: Else Lasker-Schüler, Gedichte 1902-1943, Kösel-Verlag München, 4. Auflage 1990
Gethsemane
Ein Frühlingstag, Himmel und Sonne klar.
Zum Abend Einkehr wie gewohnt.
Die Amsel singt fremder vielleicht.
Spät trittst du noch einmal hinaus,
stumm in die Lichter der Menschen.
Wie viele noch gehen in ihren Waffen,
wie wenig Gehör, du ebenso.
Und über den Tankstellen,
wo sich das Leben begibt,
rot geht ein Mond herauf,
der nicht mehr ganz vollständig ist.
Aus: Die Farben des Wassers, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2001
Loschwitzer Morgen
Halb sieben in der Frühe
der hinkende Mann in dem roten Hemd,
der an der Hintertür des Lebensmittelladens
die rauchenden Verkäuferinnen grüßt,
die große mit dem blonden Bürstenschnitt
wird später an der Käsetheke stehen,
die kleinere, ihr Bürstenschnitt grau,
sitzt meistens an der Kasse.
Über das Land
Asher Reich, Tel Aviver Ungeduld. Gedichte, übersetzt von Lydia Böhmer und Paulus Böhmer, axel dielmann-verlag Frankfurt am Main 2000
Nachts, Frühling
Narzissen nachts finden,
in Vasen sich wendend
zum Fenster, zur Nacht,
Narzissen, die wissen
es sicher, aber du auch,
wir sind von der Zwiebel
geschnitten von Hand
großer Gärtnerinnen.
Aus: Imago, S. Fischer Verlag Frankfurt am Main 2022
Rille
Jürgen Theobaldy, Nun wird es hell und du gehst raus, Wallstein Verlag Göttingen 2024
Verfolgungswahn
Statt des Geldbriefträgers kommt der Mond
vom Friedrichshain. Statt der Liebe tritt
der wackere Sankt Georg aus der Ecke,
fremd, unbekannt ohne sein Kreuz.
Statt der Krokusse, der zarten Frühlingstöne,
rast der Schlitten auf der Todesbahn.
Statt des Planschbeckens für die Enkel
steht das Leninmonument im Garten.
Aus: Die sichtbaren Dinge, poetenladen, Leipzig 2019
Sommertag
Aus: Ausgewählte Gedichte, Chaim Nachman Bialik, R. Löwit Verlag, Wien und Dresden 1922
Sternsucher
Der, hör ich, nachts aus dem Haus geht
und, seh ich, hoch in den Himmel schaut,
den, weiß ich, eine sehr gerne mal träfe,
doch, sagt sie, so wie es aussieht,
der, klagt sie, schaut doch immer nur hoch
und, denkt sie, niemals in mein Gesicht.
So, mein Freund, findest du nie deinen Stern.
Aus: Vineta, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998
Die Frühjahrssturm-Terzinen
Das Kind
Bin wieder Kind geworden mit den Jahren,
hab keinen Anteil an der großen Welt,
hocke in einem abgelegenen Garten
und staune, dass der Regen fällt.
Die Leute draußen denk ich mir zu Liebespaaren,
und obendrein verdienen sie sich Geld.
Meins ist, ich liebe, auf die Sterne warten,
kann sein, dass einer in mein Hemd rein fällt.